Als ich den Computerraum verließ, bildete ich mir ein, am Fenster wäre gerade ein Schatten verschwunden. Ich verharrte einen Moment lang schweigend. Von Sekunde zu Sekunde erschienen mir die Feiergeräusche aus der Partyhütte lauter. Selbst wenn es andere gab, die würde ich kaum heraushören. Es graute mir vor der alkoholisierten Meute. Im Moment vermisste mich wahrscheinlich niemand, aber sobald ich zu den anderen ginge, würde mich ein lautes Hallo empfangen. Und für einen Chef gehörte es sich, sich unter sein Team zu mischen und Smalltalk für den Zusammenhalt mit seinen Untergebenen zu treiben. Genau danach aber stand mir der Sinn zuallerletzt.
Inzwischen war ich so überarbeitet, dass ich selbst hier draußen Leute vermutete, die mich beobachteten – und ich dachte dabei nicht an eine Romana.
Ich wollte endlich wieder den Kopf freibekommen. Im Moment war immer ich es, mit dem etwas gemacht wurde. Also nicht nur von den Bienen. Das musste ich ändern. Dazu musste ich aber wissen, was ich eigentlich wollte. Ich selbst, für mich und überhaupt. Außer Sicherheit für Lissy natürlich.
Die Luft draußen war noch sommerlich warm, aber schon mit einem Hauch Nacht am See aufgefrischt. Die Tiere der Natur, hätte es sie hier gegeben, hätten die verschiedensten feinen Gerüche aus der seidigen Abendluft gefiltert. Ob ich so etwas auch konnte?
Genau der richtige Zeitpunkt für einen Spaziergang oder einen Lauf am Ufer entlang. Ich machte mich auf den Weg. Wieder war da die Einbildung beobachtet zu werden. Ich schrieb sie dem allgegenwärtigen Verfolgungswahn zu. Lauschte, ging ein paar Schritte, lauschte erneut. Das Knirschen unter meinen Turnschuhen kam mir unheimlich laut vor. Sobald ich still stand, war da nichts. Nur die Geräuschkulisse einer einsamen Nacht am See. Man konnte auch unzutreffend Stille dazu sagen.
Der Partybungalow war längst nicht mehr zu sehen. Ich hörte aber noch die Musik und ich wusste, dass unmittelbar hinter dem Weg am See in der Dunkelheit ein Zaun unerwünschte Öffentlichkeit verhinderte. Der Machtbereich des Instituts endete zwar hier, aber er war allgegenwärtig. Nur einige Vögel, deren Namen ich nicht kannte, meldeten sich. Männchen, die auf sich aufmerksam machten und die die Zäune nicht störten.
Da lief ich los. Mit jedem Schritt weiter weg von dieser Unglücksbaracke fühlte ich mich leichter. Ich rannte immer schneller. Nur noch weg, hinaus in die Dunkelheit.
Zeit spielte keine Rolle. Ganz von fern erreichte mich inzwischen verstärkter Lärm übers Wasser. Vielleicht ein Streit. Sollten sie. Ich war wohlig außer Atem. Nichts mehr denken. Ein paar gymnastische Beuge- und Streckübungen. Peinlich. „Sportlich“ gehörte nicht gerade zu den Adjektiven, mit denen man meinen doch noch jungen Körper belegt hätte. Aber mich sah ja niemand.
Vor mir schob sich verführerisch ein Stück Uferwiese flach in den schlafenden See hinein. In dem blinzelte mir ein Sichelstück Spiegelmond zu. Wäre Lissy bei mir gewesen, wir wären vor lauter Romantik dahingeschmolzen. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Ich schlüpfte aus den Sachen, spurtete ausgelassen wie ein plötzlich seiner Aufsicht entwischter Junge ins Wasser hinein, prustete, tat ein paar Schwimmzüge, bewegte mich dann so geräuschlos wie möglich und fühlte mich endlich glücklich, allein, 500 Lichtjahre entfernt von der nächsten verdammten Zivilisation.
Ich war nur ein mäßiger Brust- und ein schlechter Rückenschwimmer, aber ich suggerierte mir, im Toten Meer zu liegen, bewegungslos an der Oberfläche zu treiben, und endlich begannen die versprengten Puzzleteile in meinem Gehirn sich fast wie von selbst zu einem Bild zu fügen. Gleich, gleich ist er da, der lange entbehrte klare Gedanke. Ich war so etwas Ähnliches wie eingeschlafen, sah mich selbst auf einer Couch liegen und daneben hockte ein zweites Ich auf einem Sessel und ich erkannte mich augenblicklich als Doktor Freud wieder.
Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, denken!
Mein Kopf! Er ist … plötzlich so schwer. Nach unten … er drängt nach unten. Nein. Er wird von hinten unter Wasser gedrückt.
Sofort habe ich den Mund voll Wasser, schlucke, drehe mich instinktiv. Die Füße. Ich muss sie hinter den Kopf bekommen. Ich brauche Schwimmhaltung. Brustschwimmen. Das, was ich am besten kann. Ich fuchtle wie wild mit den Armen herum. Irgendwelche Abwehrbewegungen. Nur mäßig erfolgreich. Für Momente komme ich zwar zu Luft, aber schon hat mich eine fremde Eisenfaust umso fester gepackt und nun mit tödlicher Sicherheit weit unter die Oberfläche gedrückt. Gezogen.
Mir ist, als türmen sich über mir mehrere Zentner Kampfmasse zu einer Pyramide. Ich bin nicht einmal fähig, seinen Körper zu packen, von einem Kampf ganz abgesehen. Als ein einziges Mal meine Rechte irgendetwas zu fassen bekommt, gleitet sie an einem öligen Körper entlang ins Leere.
Seltsam langsam und unwirklich erfasst mich Todesangst … Der Gedanke, dass ich in Lebensgefahr schweben könnte, stellt sich albtraumartig ein. Zeitverzögert. Das kann doch nicht sein!
Ich schreie nicht. Ein weiterer Arm schlingt sich um meinen Hals und er drückt mit einer Kraft zu, dass ich am liebsten stillhalten würde, um diesen Moment zu verkürzen, diesen Moment, bis alles vorbei ist.
Seltsamer Überlebensreflex! Inzwischen muss ich Massen von Wasser eingeatmet haben. Jedenfalls drängt mich alles zum Husten. Unter Wasser. Irgendwie im Gefühl des Sterbens.
Und dann gibt der Schraubstockgriff plötzlich nach. Ich schieße wie eine losgelassene Katapultkugel nach oben. Ein Röchellaut. Ich muss unbedingt husten. Alles dreht sich … und dann weiß ich nichts mehr.
…
„Bin ich tot?“
Die Frage war für die vorangegangenen zehn Jahre so ziemlich das Witzigste, was ich je von mir gegeben hatte. Davor hatten sich wilde Bilder überschlagen. Irgendetwas hatte versucht, mir die Zunge aus dem Rachen zu ziehen und dann war mir der Magen an der Lunge vorbeigeflogen oder umgekehrt und aus beiden hatte ich Flüssigkeiten und Luft gebellt und mehrmals hatte mich etwas gerollt, gebogen, gedrückt und gerieben, hatte mich gebissen und … ach, was weiß ich.
„Seh ich etwa aus wie ein Engel?“, vernahm ich die der Frage angemessene Antwort.
„Auf jeden Fall.“
„Na, dann hast du hoffentlich nichts dagegen, wenn ich erst mal meine Flügel auswringe.“
Und bevor ich – was auch immer – hätte antworten können, zerrte Romana ihre Tunika über den Kopf und wrang einen kleinen See aus dem hellen Stück. Ich wollte mich etwas aufrichten, um ihr dabei besser zusehen zu können, da drehte sich alles und ihr Bild war verschwunden. ...