Das Märchen zur Eröffnung

Der Geschichtenbaum

Schon lange war der Geschichtenerzähler Olum sehr traurig. Schon lange zeigte ihm seine Frau keine Liebe mehr. Sie wohnte zwar noch bei ihm, aber nur, um ihm die Belohnungen abzunehmen, welche er, selten genug, für eine erzählte Geschichte bekam.

Inzwischen lag es jedoch lange zurück, dass er die letzte Belohnung erhalten hatte, denn des Erzählers Traurigkeit hatte sich auch in seine Geschichten eingeschlichen. Dafür wurde er von des Königs Hof verwiesen, denn der König wollte nur fröhliche Dinge hören. So streifte Olum durchs Land. Seine Frau aber zog zu einem anderen Mann. Da liefen zum ersten Mal Spottlieder singende Kinder hinter dem traurigen Erzähler her. Olum wurde davon noch trauriger und schließlich fielen ihm gar keine Geschichten mehr ein. Die Leute schüttelten nur noch den Kopf, wenn sie ihn sahen, und sie fanden es gut, wenn die Kinder ihn aus ihren Dörfern vertrieben. Bald waren seine Schuhe zerschlissen, und hätte ihm noch jemand zugehört, hätte er ihm erzählt, er sei der traurigste Spank auf der Noytja, und er, der Zuhörer, könne nur der zweittraurigste werden – das sei doch auch ein Trost, oder?

Aber, wie gesagt, niemand hörte Olum zu. So wanderte er drauflos, um nur möglichst weit weg von den letzten Spank zu kommen, tief hinein in einen Wald. Er wagte sogar einen Weg zu gehen, den inzwischen selbst die Kräuter sammelnden Hexlein mieden, die ihn einst angelegt.

 

Mehrmals machte Olum unterwegs Rast und erzählte seine Geschichte den Bäumen, die ja nicht weglaufen konnten. Stumm lauschten die seinen traurigen Worten, und als er geendet hatte, da weinten sie gar bitterlich, als regnete es gerade. Vielleicht regnete es aber auch wirklich und der Geschichtenerzähler konnte nur den Himmel nicht sehen.

Endlich endete der Weg an einer Lichtung. Die wirkte gar schauerlich auf Olum, obwohl er nicht hätte sagen können warum. Unruhig sah er sich um, vermochte aber nichts Besonderes zu entdecken. Einzig einen Baum in der Mitte, und es war einer, wie Olum noch keinen ähnlichen je gesehen, und er vermeinte alle Arten von Bäumen zu kennen. Dieser zog Olum magisch an.

Als er näher trat, erkannte er Narben in der Rinde des Baumes und darunter Näpfe, wie sie bei einigen Baumarten eingesetzt wurden, um Harz zu sammeln, je ein roter, ein grüner und ein gelber. Ein schwarzes Töpfchen stand etwas abseits. Erstaunt betrachtete Olum das seltsame Bild.

Plötzlich drang eine tiefe Stimme durch das Rauschen der Krone: „Was immer dich quält, erzähl es mir, damit dir leichter werde!“

Olum wurde es dadurch nur noch unheimlicher zumute und eingeschüchtert tat er, wie ihm geheißen. Als ihm dabei jedoch drei Tränen auf den Boden fielen, sprossen an der Stelle drei Triebe in die Höhe, so schnell, dass Olum dabei zusehen konnte.

Ich stehe hier, dir zu helfen“, ertönte die Stimme erneut. „Nimm die drei Triebe mit dir und pflanze sie ein, wo immer du wohnen möchtest. Das sind die Zeiger deines Lebens. Der hellgrüne misst das Glück 

deiner Liebe, der mittelgrüne zeigt dir, ob du wirklich ein guter Geschichtenerzähler bist, der dunkelgrüne offenbart, ob du auch im folgenden Jahr noch gesund sein wirst. Zuvor aber nimm den schwarzen Topf an dich. In ihm mische, was du für deine Geschichten nutzen möchtest. Nimm dir ein wenig aus jedem der farbigen Näpfe. Der rote enthält die Kraft großer Helden, der grüne die der Liebe, der gelbe die der Fantasie.“

Staunend lauschte der Erzähler den Worten des Baumes. Dann bückte er sich, griff nach dem schwarzen Topf und füllte ihn mit Heldenkraft, Liebe und Fantasie.

Wann immer du wünschst, dass eine Geschichte dir einfallen möge …“, erhob der Baum erneut die Stimme und sein Stamm knarrte dazu, dass Olum meinte, der Geschichtenbaum lächelte bis hinauf ins sonnennächste Blatt, „… trinke davon einen kleinen Schluck. Eines aber wisse: Eine Geschichte lebt nur dann, wenn dein Gefühl ihr innewohnt. So wirkt der Trank erst, wenn du zuvor jedes Mal auch eine deiner Tränen dazugegeben hast!“

Der Geschichtenerzähler bedankte sich und wollte schon gehen, da erklang die Stimme ein letztes Mal: „Aber hüte dich gut, dein Geheimnis zu verraten! Nur dann werden dir helfende Tränen kommen.“

Ein wenig ungläubig ging Olum von dannen, aber er dachte, schlimmer könnte es für ihn nicht mehr werden. Da sollte er als letzten Versuch wenigstens des Baumes Mittel eingesetzt haben. „Hüte dich …!“, klang es in seinen Ohren, doch er zuckte nur mit den Achseln. Wenn er versagte, würde er genug Tränen haben, wenn er aber ein berühmter und geliebter 

Geschichtenerzähler geworden wäre, was brauchte er dann die Hilfe von Tränen?

Und so siedelte Olum erneut in der Nähe des Königshofes und pflanzte seine drei Lebenszeiger in die Erde. Von Zeit zu Zeit nahm er einen Schluck der geheimen Mischung, die der Baum ihm geschenkt, und seine Geschichten waren neu und schön, und bald kamen die ersten Spank, sie sich anzuhören. Sie waren so gefangen, dass sie nicht nur bis zum Schluss lauschten, sondern die Kunde sogar bis zum König verbreiteten: „Da ist jemand, der vermag gar trefflich die herrschaftliche Langeweile zu vertreiben.“

Man ließ den Erzähler kommen und er verschenkte viele Märchen voller Fantasie und Liebe und eines, in dem ein Vorfahre des Königs ein Ungeheuer besiegender Held gewesen war. Das erfreute den eitlen Herrscher und dessen Räte amüsierte es.

So bekam Olum den Titel „Erster königlicher Ratstags-Geschichtenerzähler“ und er durfte am Ersten jedes Monats einmal den Duft der königlichen Schatztruhe einatmen … wenn auch nicht mehr … doch nach seinen Erzählungen zumindest alle Reste der königlichen Gelage verzehren – und das waren immer so viele, dass sein Bauch für drei Tage prall gefüllt war.

Seine Frau kam zurück, ihn bei den Mühen, den neu gewonnenen Ruhm zu ertragen, zu entlasten. Wie oft musste sie ihn aus großer Runde ziehen, die sich zusammenfand, sobald Olum irgendwo auftauchte. Stets bat einer, er möge zu erzählen beginnen, und der Nächste fragte, ob er denn noch eine neue Geschichte kenne?

Die drei Lebenszeiger-Triebe wuchsen heran und wurden zu kräftigen kleinen Bäumchen. Oft sah Olum nach ihnen und erfreute sich an ihren leuchtenden Blättern.

Tatsächlich, seine Geschichten waren gut, und um seine Gesundheit war es ebenfalls trefflich bestellt. Einzig der Baum mit den hellgrünen Blättern schien ihm ein wenig zu kränkeln. Wie seltsam … War nicht sein Weib in Liebe zu ihm zurückgekehrt?

Immer häufiger begegnete der Geschichtenerzähler in diesen Tagen einer unscheinbaren Frau, die es nur selten beim Zuhören beließ. Immer wieder stellte sie Fragen, ob es nicht besser, spannender oder lustiger wäre, wenn … Und dann machte sie Vorschläge, wie die Geschichten noch besser, spannender und lustiger klingen könnten.

Anfangs ärgerte sich Olum, dass sie ständig etwas zu bemängeln fand. Besonders, da er ihr im Stillen Recht geben musste. Mit der Zeit jedoch wagte er kaum noch, mit einer Geschichte durchs Land zu ziehen, die diese Frau nicht zuvor gehört und für gut befunden hatte. Er hatte sogar den Eindruck gewonnen, dass in der Tiefe ihrer Augen gar wunderbare Geschichten darauf warteten, von ihm entdeckt zu werden.

Seine Frau jedoch spöttelte: „Du bist der berühmteste Erzähler im ganzen Königreich. Die Geschichten, die allein deinem Kopfe entsprungen, sind wunderbar. Und ausgerechnet du lässt sie dir von einem Bauernmädchen kaputtmachen, das meint, alles besser zu wissen?“

Immer wieder stichelte und hetzte sie. Und stets aufs Neue merkte Olum, dass er, obwohl ihm die Worte für seine Geschichten nur so zuflogen, keine rechten Worte für eine Entgegnung fand. Und so schoss ihm eines Tages die Wahrheit aus dem Mund. Er hatte es einfach ausgesprochen: Irgendwie, hatte er gesagt, wären das doch alles gar nicht seine Worte. Irgendwie wären sie nur das Geschenk eines Baumes. Er müsse nur des Baumes Harz wie Nektar zusammen mit einer Träne schlucken, dann kämen die Worte geflogen.

Ein Baum verschenkt keine Worte. Nun erzählst du mir schon Märchen, als ob sie wahr wären.“ Die Frau lachte abfällig. Der Geschichtenerzähler aber war entsetzt. Er hatte die Weisung des Baumes missachtet.

Allerdings, seine Frau glaubte ihm ja nicht! Das war doch genauso, als hätte er sein Geheimnis gar nicht ausgeplaudert. Oder?

Als er am nächsten Morgen nach dem Napf sah, war alles noch da wie gewohnt. Als er jedoch nach einer Träne suchte, sie der Mischung hinzuzufügen, stellte sich keine ein. Eine Geschichte flog ihm trotzdem zu.

Ein Held kam darin vor und Liebe und nett war die Geschichte, doch der Geschichtenerzähler merkte, dass ihr etwas fehlte. Olum aber trug sie trotzdem vor.

Beim ersten Mal unterdrückte der König noch sein Gähnen, und man sagte, die ist aber süß, die Geschichte. Bei der nächsten jedoch gähnte der König laut und winkte, man möge den Erzähler entfernen, und die Hofleute sprachen: „Ganz hübsch, aber langweilig“, und das erzählten sie weiter.

So hatte sich bald herumgesprochen, dass dieser Erzähler erneut des Königs Gnade verloren hatte, dieses Mal wegen Langweiligkeit. Und ihm fielen keine neuen Geschichten mehr ein, und die alten erzählte Olum nun, als hätte jemand aus einer ehemals gut gewürzten Suppe das Salz wieder entfernt. Bald kam niemand mehr, wenn er irgendwo auftauchte, bis auf die fremde Frau. Die sah ihn aber auch nur traurig grübelnd an, als quälte sie, dass ihnen beiden nun nichts mehr einfiel.

Olums Frau verließ erneut die gemeinsame Hütte. Mit einem Mann, den jeder mied und der allen Glanz verloren, in dem sie sich sonst hatte sonnen können, wollte sie nicht zusammenleben.

Traurig hockte Olum auf der Schwelle des Häuschens und sein Blick wanderte zu den Trieben, die er davor gepflanzt, und er wunderte sich: Von den drei Bäumchen ließ der für den Erfolg seiner Geschichten alle Blätter hängen und es sah aus, als würden sie gleich abfallen. Das war verständlich. Der für Gesundheit und Lebenskraft war zwar etwas geneigt, aber er sah ganz und gar nicht so schrecklich aus, wie Olum sich fühlte. Der dritte jedoch, der für die Liebe, strotzte vor fröhlich hellem Grün. Wollte ihn der Geschichtenbaum mit dieser Gabe verspotten?!

Wütend sprang der Mann auf, ging in die Hütte, warf in hohem Bogen seinen Napf nach draußen und griff nach einer Axt.

In der Tür jedoch prallte er mit der Frau zusammen, die ihm einst so begeistert seine guten Geschichten verbessert hatte. Die war nun über und über mit Baumharz aus dem fliegenden Napf bekleckert.

Oh, Entschuldigung“, murmelte Olum verstört, und er suchte vergeblich ein paar nette Worte, aber es fielen ihm nur gar süße ein und die waren peinlich, und er versuchte die klebrige Masse abzuwischen und da wurde es noch peinlicher, und er fragte „Möchten Sie vielleicht etwas essen?“, was am peinlichsten war, denn er hatte gar nichts Essbares im Haus.

Was dann folgte, ist aber eine andere Geschichte.

Ob der Mann je wieder gute Geschichten erzählt hat? Vielleicht stand es in der Chronik im Schloss, doch das brannte bis aufs Fundament nieder. Auch die Hütte gibt es schon lange nicht mehr. Neben der Stelle, an der sie einst gestanden haben soll, strecken sich drei riesige uralte Bäume eng aneinandergeschmiegt in die Höhe. Einer mit dunkelgrünen Blättern, einer mit mittelgrünen Blättern und einer mit hellgrünen Blättern. Schon viele Pärchen sind gekommen und haben in letzteren ein Herz geschnitzt. Wenn es am nächsten Tag noch zu sehen sei, sagt man, bliebe das Paar in Liebe zusammen … und das kann doch kein Märchen sein, oder? 

 

 

Autor: Slov ant Gali

27. März 2015 / Stand 2021

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